Zwang, alles zu fotografieren

Seit einigen Jahren berichten immmer mehr Menschen mit Kontrollzwängen von einem “neuen” Phänomen: Dem Drang, alle möglichen Dinge fotografieren zu müssen. Während ihnen früher ein zusätzlicher Blick auf den Herd oder das nochmalige Anfassen der Türklinke genügte, hat sich mit zunehmender Verbreitung der Smartphones das Foto von Herd, Türklinke, Lichtschalter usw. als zusätzliche Zwangshandlung etabliert.

Dies wäre an für sich nicht weiter problematisch: Sehr viele Betroffene erleben zunächst sogar eine deutliche Erleichterung durch die vermeintliche zusätzliche Sicherheit, welche ihnen die Fotos verschaffen. Dabei fällt auf, dass die meisten Betroffenen berichten, dass sie die Fotos im Tagesverlauf gar nicht mehr anschauen müssen - alleine die Gewissheit, das Foto dabei zu haben, um “im Notfall” nochmal kontrollieren zu können, genügt ihnen.

Wie es jedoch bei Zwängen leider üblich ist, unterliegt auch der Fotografier-Zwang einer zunehmenden Verschlechterung. Nach einigen Wochen bemerken die meisten Betroffenen ein deutliches Nachlassen der absichernden Wirkung des Fotografierens. Und damit beginnt der Kreislauf: Ich fange an, noch mehr und noch genauere Fotos zu machen. Und während ich anfangs vielleicht nur die Kerze fotografiert habe, um sicher zu sein, dass sie auch wirklich aus war, kann ich plötzlich die Wohnung nicht mehr verlassen, ohne zwanzig Fotos gemacht zu haben...

Am Beispiel des Fotografier-Zwangs kann man dabei etwas Interessantes beobachten: Zwänge sind ein jahrtausende altes Phänomen - und doch schafft es der Zwang immer wieder, sich an neue Entwicklungen und neue Bedingungen anzupassen. Vielleicht sind Zwangsstörungen auch gerade deswegen so erfolgreich: Egal, welche neuen Ideologien oder welche neuen Technologien sich die Menschheit ausgedacht hat - der Zwang hat immer nur kurze Zeit gebraucht, um sich diese zu seinem Zwecke nutzbar zu machen.

Im Hintergund profitiert er dabei immer wieder vom gleichen Konstrukt: Der Sorge vieler Menschen, etwas falsch zu machen, etwas zu übersehen, etwas nicht kontrollieren zu können, zu versagen, eine Schuld auf sich zu laden...

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