Reinigungszwang

Als Reinigungszwang bezeichnet man den übermäßigen Drang, bestimmte Bereiche des Alltags, wie zum Beispiel bestimmte Teile der Wohnung oder Gegenstände, immer wieder reinigen zu müssen. Die Betroffenen erleben dabei oftmals eine ausgeprägte Angst vor Verunreinigungen und/oder vor möglichen Krankheitserregern, die oftmals auch mit ausgeprägten Ekelgefühlen beim Anblick von Verunreinigungen verbunden ist. Bei vielen Erkrankten genügt auch bereits der bloße Gedanke an solche möglichen Verunreinigungen, dass Gefühle wie Angst oder Ekel auftreten.

Sehr viele Menschen mit einem Reinigungszwang leiden dabei nicht etwa an einem “Putzfimmel”, sondern vielmehr an der großen Sorge, dass sie selbst dafür verantwortlich sein könnten, dass andere Menschen durch Verunreinigungen oder Krankheitserreger erkranken oder sonstwie geschädigt werden könnten - und dass sie selbst, also die Zwangserkrankten, irgendetwas übersehen oder unterlassen haben könnten, wodurch die Anderen jetzt geschädigt werden.

Der Reinigungszwang bringt die Betroffenen dann dazu, bestimmte Zwangshandlungen immer wieder ausführen zu müssen, wie zum Beispiel die übermäßige Reinigung von Alltags­gegenständen oder der eigenen Wohnung. Wenn sich der Reinigungszwang vorrangig auf bestimmte Körperteile bezieht, wie zum Beispiel beim übermäßigen Händewaschen, wird er eher als Waschzwang bezeichnet. Das übermäßige Putzen der Wohnung und anderer Orte ist demgegenüber als Putzzwang bekannt.

Reinigungszwang: Ursachen

Wie auch bei anderen Zwängen können auch beim Reinigungszwang sehr verschiedene Faktoren zusammentreffen, die dann gemeinsam zum Auftreten der Zwangshandlungen führen. Dabei muss wieder wie auch bei anderen Zwangshandlungen beachtet werden, dass die Handlung selber - also in diesem Fall zum Beispiel das übermäßige Reinigen der Wohnung - letztendlich wieder nur eine Art “Werkzeug” ist, mit dem die Betroffenen (unbewusst) versuchen, die zu Grunde liegenden Ursachen und die damit einhergehenden bedrohlichen Emotionen und Befürchtungen zu bewältigen.

Aus diesem Grund ist es wichtig, vor dem Beginn der Behandlung der Reinigungszwänge zunächst einmal die verschiedenen individuellen Ursachen herauszu­arbeiten. Dabei sind unter anderem die folgenden Gefühle, Gedanken, Lebenserfahrungen und Persönlichkeits­faktoren häufige Auslöser für die Reinigungszwänge.

Angst- oder Ekelgefühl?

Zwei sehr belastende Gefühle treten beim Reinigungszwang immer wieder in den Vordergrund: Angst und Ekel. Dabei gibt es durchaus Unterschieden zwischen den Zwangserkrankten: Die einen leiden eher an ausgeprägten Angstgefühlen und der Sorge, dass sie selber oder andere Menschen durch die angenommenen Verunreinigungen zu Schaden kommen könnnte.

Bei anderen Erkrankten sind demgegenüber ausgeprägte Ekelgefühle die Auslöser für ein großes Unwohlsein. Und dann gibt es natürlich auch hier Menschen, die beide Seiten kennen, also sowohl die überhöhten Ängste wie auch den ausgeprägten Ekel.

Warum es wichtig ist, diese beiden Emotionen zu unterscheiden, und was dies mit den Ursachen der Reinigungszwänge zu tun hat, wollen wir uns im Folgenden genauer ansehen:

Schuldgefühle und Selbstvorwürfe

Wie oben schon erwähnt, haben sehr viele Betroffene die Sorge, dass sie selber oder andere Menschen durch bestimmte Verschmutzungen, z.B. durch Krankheits­erreger, krank werden bzw. einen schlimmen gesundheitlichen Schaden nehmen könnten. Diese Sorge ist beim Reinigungszwang zumeist mit der Befürchtung gepaart, dass ich als Betroffener zu wenig gegen diese mutmaßlichen Gefährdungen unternommen haben könnte - dass ich also zum Beispiel die Türklinke nicht ausreichend gereinigt habe - wodurch ich mir dann automatisch selbst Schuldvorwürfe mache: “Wenn jemand anders zu Schaden kommt, dann bin ich daran Schuld, weil ich so unachtsam oder nachlässig war...!”

Den meisten Betroffenen ist dabei klar, dass ihre Sorgen übertrieben und die Schuldgefühle überhöht sind - und trotzdem “siegt” im Zweifelsfall immer der Zwang, denn wer möchte schon diese Verantwortung auf seine eigenen Schultern nehmen, dass er vielleicht für die schlimme Erkrankung eines Anderen verantwortlich ist? Auf jeden Fall kein Mensch mit Zwängen. Und da kommen wir auch schon gleich zu einer wichtigen Ursache für die Zwangshandlungen: Neben den ausgeprägten Angstgefühlen und vielen Katastrophen-Gedanken leiden die meisten Betroffenen an deutlich überhöhten Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen, verbunden mit der sehr großen Sorge, durch Unterlassen oder Unachtsamkeit andere Menschen zu schaden.

Dies führt dann dazu, dass sie sich zumeist selbst viel mehr Druck machen, auf penibelste Sauberkeit zu achten, als sie es zum Beispiel von anderen Menschen verlangen würden. Die Hintergründe für diese ausgeprägten Schuldgefühle liegen oftmals in belastenden Erfahrungen aus der eigenen Kindheit und Jugend, sowie in einem eher besorgten und sehr bemühten Persönlichkeitstil.

Gerade in der jetzigen Zeit mit den vielen Diskussionen um das “neue” Coronavirus führt dies viele Betroffene in eine nahezu ausweglose Situation, denn einerseits möchten sie alles versuchen, um gegen ihren Zwang anzugehen, und andererseits werden ihnen in den Medien Schreckens­szenarien präsentiert, was denn eine scheinbar unzureichende Hygiene alles verursachen kann. Dabei den richtigen, gesunden Mittelweg zu finden ist für Betroffene nahezu unmöglich.

Wir empfehlen deswegen unseren Patientinnen und Patienten, sich diesbezüglich an fachlich kompetente Quellen zu halten, wie zum Beispiel an die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Auf deren Internetseite finden Sie alles Wissenswerte zum Thema Hygiene und Infektionsschutz (Weiterlesen: BZgA: Hygienetipps) - und insbesondere auch wichtige Hinweise, wie viel an Reinlichkeit und Hygiene dann auch “ausreichen dürfen”.

Krankheitsängste

Neben der Angst vor dem Coronavirus können auch andere Krankheitsängste zu einem Reinigungszwang führen. Bei einem typischen Reinigungszwang sind diese Ängste aber sehr oft nicht auf die eigene Person bezogen sondern wie oben bereits erwähnt auf die Sorge, dass andere Menschen durch mein eigenes Unvermögen erkranken könnten. Falls demgegenüber die Krankheitsängste nahezu ausschließlich auf die eigene Person bezogen sind, besteht im Hintergrund der Symptomatik häufig eine Hypochondrische Störung.

Weiterlesen:
   • Hypochondrische Störung

Belastende Lebenserfahrungen

Bei einigen Betroffenen haben sich die Reinigungszwänge als Reaktion auf belastende Lebenserfahrungen, z.B. in der Kindheit oder Jugend, entwickelt. Dies können schwere, traumatisierende Erfahrungen gewesen sein. Aber auch einzelne, kurze Alltagssituationen können sich immer mehr festsetzen, so dass sich hieraus Reinigungszwänge entwickeln. Hierzu die Berichte einiger Betroffener:

Erfahrungsberichte

Manuela (42 J.)* aus Wasserburg:
“Ich habe seit meiner Jugend unter einem ausgeprägten Ekelgefühl vor allen Arten an Körperkontakt gelitten, und auch vor einem großen Ekel vor körperlichen Ausscheidungen, egal ob es Schweiß, Blut, Kot, oder auch nur Haare oder Hautschuppen sein könnten. Ich habe deswegen im Lauf der Jahre immer mehr Reinigungsrituale entwickelt (...) Dies hat schließlich dazu geführt, dass ich irgendwann gar niemanden mehr in meine Wohnung herein gelassen habe, aus Sorge, ich könnte sie nie wieder sauber bekommen. (...) Mir ist es dann auch von der Stimmung her immer schlechter gegangen, ich habe mich immer mehr zurück gezogen, bin depressiv geworden. (...) Erst viel später habe ich in einer Therapie heraus arbeiten können, dass meine großen Ekelgefühle mit schlimmen Erfahrungen zusammenhängen, die ich als kleines Kind hab durchleben müssen und die ich lange verdrängt hatte. (...) Erst als mir dies klar wurde, habe ich mehr und mehr zwischen den alten Erinnerungen und meinem jetzigen Leben unterscheiden können und mich auch meinen Zwängen immer mehr wiedersetzen können. (...)”

Juri (29 J.)* aus Traunreut:
“Meine Zwänge habe an einem einzigen Tag begonnen. O.k., ich hatte früher auch schon mal so was wie Zwänge, aber damit habe ich immer gut leben können. Und dann habe ich einmal im Zug beobachtet, wie sich ein sehr schmutziger, ekliger Mann auf den Platz schräg gegenüber gesetzt hat. Ich habe mir dann die ganze restliche Zugfahrt vorgestellt, dass so einer wie der vielleicht vorher auf meinem Platz gesessen hat. Das habe ich so eklig gefunden, ich habe dann erst einmal zu Hause meine ganze Kleidung waschen müssen und mich selber lange geduscht. Seit dem ist es bergab gegangen. Mir sind immer mehr Situationen aufgefallen, die irgendwie eklig sein könnten, und ich habe immer mehr angefangen, mich selbst, meine Kleidung und alles andere zu reinigen. (..) Ich verlasse meine Wohnung nur noch mit Desinfektionsmittel und Einmalhandschuhen in der Tasche. (...) ”

Warum sind diese Unterscheidungen wichtig? Nehmen wir die beiden Betroffenen aus den obigen Berichten. Bei beiden hat sich der Reinigungszwang erst als Reaktion auf ein oder mehrere belastende Erlebnisse entwickelt. Die Zwangshandlungen sind also ein “Lösungsversuch”, mit dem sich die Psyche aus diesen bedrohlichen und belastenden Situationen befreien möchte - weil sie gerade keine besseren Lösungswege finden kann und sich ausgeliefert und hilflos erlebt.

Wenn wir den beiden Betroffenen jetzt einfach nur vorgeben, sie sollten doch bitteschön ihre Reinigungszwänge mal sein lassen, oder ihnen etwa verbieten würden, die Zwangshandlungen durchzuführen, dann würden wir ihnen sozusagen den letzten Lösungsweg nehmen, der ihrer Psyche noch eingefallen war - und damit dann den Druck und die Gefühle von Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit noch verstärken.

Ganz klar: Mittelfristig wollen wir natürlich genau dies: Übungen, bei denen sich die Betroffenen mit ihrem Zwang und den damit verbundenen Gefühlen und Sorgen konfrontieren, und in denen sie versuchen sollen, die Zwangshandlungen nicht durchzuführen, zum Beispiel im Rahmen einer Expositionstherapie. Aber bis dies gelingen kann müssen die beiden Betroffenen aus den Erfahrungsberichten zunächst einmal verstehen lernen, welche Funktion die Zwänge bei ihnen erfüllen und aus welchen älteren Erfahrungen sie sich entwickelt haben - erst dann können sie sich die innere Erlaubnis geben, wirklich gegen die Zwangshandlungen Widerstand zu leisten.

Weiterlesen:
   • Posttraumatische Belastungsstörung

Persönlichkeitsfaktoren

Jeder Mensch hat glücklicherweise seine eigene Persönlichkeit. Und genau so wie es einige Persönlichkeits­faktoren gibt, die überaus hilfreich sind, gibt es auch Persönlichkeits­eigenschaften, die sozusagen Licht und Schatten mit sich bringen.

Nehmen wir einmal die Selbstreflektion. Dies ist eine sehr wichtige Persönlichkeits­eigenschaft, Menschen mit zu wenig Selbstreflektion sind ofmals eher schwierig im Kontakt. Aber auch ein zu viel an Selbstreflektion kann - wenn es zum Beispiel noch mit einer hohen Dosis an Unsicherheit und Depressivität einher kommt - in ein andauerndes Grübeln über die eigene Person und befürchtete eigene Unzulänglichkeiten abgleiten. Und dies sind dann leider wieder Bedingungen, die es den Zwängen leichter machen, sich fest zu setzen.

Neben den eher selbstunsicheren und selbstabwertenden Persönlichkeits­zügen können auch ein Übermaß an Genauigkeit und Ordnungsliebe das Auftreten der Reinigungszwänge begünstigen. Genau wie beim Ordnungszwang muss deswegen auch der Reinigungszwang von der so genannten Zwanghaften Persönlichkeitsstörung abgegrenzt werden.

Weiterlesen:
   • Zwanghafte Persönlichkeitsstörung

Therapie des Reinigungszwangs

Zur Therapie des Reinigungszwangs siehe das Kapitel Zwänge: Therapie.

Weiterlesen:
   • Zwänge: Therapie

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